Ingrid Barrøy wächst zwischen den Weltkriegen auf einer Schäreninsel im Norden Norwegens auf. Das Inselleben ist rau und hart, die Tage sind geprägt vom Wetter und der unbarmherzigen See.
Die Männer der Familie verdienen ihr Geld mit Fischfang, die Frauen kümmern sich um die Tiere und die Ernte, knüpfen Netze, trocknen Fische. Was sie nicht selbst herstellen können, kaufen sie in der Handelsstation am Festland.
Ingrid schafft als erste den Sprung von der Insel. Auf dem Festland verdingt sie sich als Hausmädchen, doch während der Wirtschaftskrise verschwinden ihre Arbeitgeber spurlos. Ingrid kehrt zurück nach Barrøy, an der Hand zwei Waisenkinder.
Und dann stirbt der Ernährer der Familie, Hans Barrøy, mit nur fünfzig Jahren. Seine Frau Maria verfällt in Trübsal und dämmert nur noch apathisch dahin. Ingrid wird zur Alleinerbin von Barrøy.
Nun bewirtschaften die Frauen die Insel und bringen auch die beiden Ziehkinder mit durch. Doch nach und nach zerstreut sich die Familie in alle Winde, Ingrid bleibt allein auf der Insel zurück …
Stühle nur für die Männer
Heute ist es kaum noch vorstellbar, dass Norwegen vor dem Ölreichtum ein sehr armes Land war. Roy Jacobsen erzählt von fast vergessenen Zeiten und einer Generation, die mit harter Arbeit dem felsigen Boden ein Leben abtrotzte.
Der Roman setzt in der Zeit des ersten Weltkrieges ein. Die Barrøys leben in einfachsten Behausungen ohne fließendes Wasser, anfangs gibt es für die Frauen nicht einmal Stühle am Tisch. Wer zum Festland will, muss kräftig rudern.
Hans Barrøy heuert in der Wintersaison auf den Lofoten an. Die Arbeit ist gut bezahlt, aber gefährlich, viele bezahlen mit ihrem Leben. Von seinem Verdienst kauft der Familienvater Baumaterial.
Nach und nach legt er Wasserleitungen, tischlert Möbel und baut gemeinsam mit seinem Vater Martin einen Schuppen. Doch immer wieder zerstört der Sturm das Bauwerk.
In einer nüchternen Sprache erzählt der Roman vom Leben in einfachsten Verhältnissen, einer Welt, in der getan wird, was getan werden muss, in der für Nachdenken und Hinterfragen kein Platz ist. Für Gefühle wie Wut, Trauer und Enttäuschung gibt es keinen Raum.
Jacobsens Perspektive beschränkt sich stets auf das Wissen seiner Figuren. Kein Wort ist zuviel, manches bleibt angedeutet. Und so erfahren wir beispielsweise nicht, woran Hans Barrøy so unvermittelt starb. Vielleicht erlag Hans dem Wundstarrkrampf, vielleicht war es etwas anderes.
Die nüchterne Erzählstimme ist die eines Chronisten, sie spiegelt das entbehrungsreiche Leben und gibt nur wenig Einblick in die Gefühlswelt der Protagonisten. Und so kommt einem auch Ingrid, die Hauptfigur nie richtig nah. Das Wetter, die Landschaft, das Meer und die sozialen Verhältnisse spielen die Hauptrolle in diesem Roman, der bar jeglicher Nostalgie vom Leben auf den Schären erzählt.
Roy Jacobsens Roman wurde urprünglich in drei Teilen veröffentlicht, die ersten beiden Teile erschienen in deutscher Übersetzung als »Die Unsichtbaren« und »Weißes Meer« im Osburg Verlag. Die Fortsetzung »Die Kinder von Barrøy« schließt die Familiensaga ab.