Der Sinn des Ganzen

BuchcoverMicah ist ein Mann mit weichem Herzen und festen Gewohnheiten. Er lebt in einem Backsteinhaus in Baltimore, dort wohnt er mietfrei als Hausmeister.

Nebenbei arbeitet er als Technik-Doktor, hilft verzweifelten alten Damen und angriffslustigen Männern, wenn ihr Notebook oder der Drucker streikt.

Alte Damen hatten die einfachsten Reparaturen aber die quengeligsten Fragen. Sie wollten immer den Grund erfahren.
ANNE TYLER - Der Sinn des Ganzen

Jeden Morgen joggt Micah eine Runde, danach nimmt er telefonisch die ersten Aufträge an. Abends trifft er sich mit seiner Freundin Cass, die als Grundschullehrerin arbeitet. Die beiden sind fest liiert, wohnen aber getrennt, was Micah für einen unbedingten Vorteil hält.

BaltimoreIn dieses aufgeräumte Leben platzt plötzlich Brink herein, ein arroganter Teenager, der behauptet, sein Sohn zu sein. Brink ist aus dem College abgehauen, weil er Mist gebaut hat – und er ist der Sohn von Lorna, einer längst verflossenen Liebe Micahs.

Normalerweise verlief sein Vormittag folgendermaßen: joggen, duschen, frühstücken, ein bisschen aufräumen. Er hasste es, wenn der übliche Ablauf eine Störung erfuhr.
ANNE TYLER - Der Sinn des Ganzen

Als Cass in Schwierigkeiten gerät und Micah gleichzeitig Brink bei sich einquartiert, laufen die Dinge aus dem Ruder …

Porträt eines Introvertierten

Oberflächlich betrachtet ist dieser Micah schon ein komischer Kauz. Er führt ein geordnetes, fast schon zwanghaft strukturiertes Leben, in dem er sich wohlfühlt und gut eingerichtet hat. In wunderbaren Miniaturen zeigt uns Anne Tyler, wie Micah tickt und was ihn ausmacht.

BaltimoreDa ist die hervorstehende Schublade, die er im Vorbeigehen selbstverständlich zuschiebt; sein wochentäglicher Putzkalender, dem er stoisch folgt; und die unaufhörliche Musikberieselung bei seiner Freundin Cass, die ihm fast körperliche Schmerzen bereitet.

Micah, der es gern still hatte, verdrängte die Musik eine Weile, nahm jedoch nach und nach eine vage, ungerichtete Gereiztheit an sich wahr ...
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Micah ist ein introvertierter Mensch, er konzentriert sich gern auf das was er gerade tut, er liebt die Ordnung und feste Gewohnheiten. Und dennoch ist er kein entrückter Computer-Nerd. Seinen Kunden, den Mietern, seiner chaotischen Familie und sogar Brink – diesem unbekannten, stressigen Wesen – begegnet er mit verhaltener Empathie. Doch manchmal ist das einfach zuwenig, findet zumindest Cass.

FamilienfeierDer Roman berührt in den kleinen Nuancen, den zwischenmenschlichen Patzern, in denen man sich wiedererkennen kann. Wer hat im größten Chaos noch nicht seinen oder seine Liebste(n) vor den Kopf gestoßen, und es hinterher dann bitter bereut? Und wer kennt sie nicht, diese Familienfeiern, bei denen alle reden und niemand zuhört?

In dieser Familie plätscherten die Gespräche üblicherweise nicht dahin, sondern brachen da und dort geysirartig aus, weshalb Suze es nicht gewohnt war, ein bestimmtes Thema länger zu verfolgen.
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Das ist eine der entwaffnendsten Szenen im ganzen Roman, diese Feier, bei der Micahs Familie Lily kennenlernen will, eine junge Frau, die Micahs Neffe Joey demnächst heiraten will. Niemand nimmt Notiz von der schüchternen Lily, stattdessen produziert man sich auf Kosten anderer und lacht über alte Runnings-Gags – natürlich auch über Micahs Putzkalender.

Ein schönes, leises Buch über einen zurückhaltenden Menschen. Nicht ohne Grund ist es in diesem Jahr für den Booker Prize nominiert.

Anne Tyler ist genaue Beobachterin der kleinen, herzzerreißenden Dramen in unserem Alltag. In ihren Romanen porträtiert sie ähnlich wie Stewart O’Nan (Abschied von Chatauqua, Die Chance), Richard Russo und Elizabeth Strout (Mit Blick aufs Meer, Die langen Abende) gewöhnliche Menschen irgendwo in Amerika, die manchmal an ihren Liebsten, ihren Mitmenschen und auch an sich selbst verzweifeln.

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