Auflaufend Wasser

Buchcover23. Dezember 1866. Tjark Evers ist einundzwanzig Jahre alt, er stammt von der ostfriesischen Insel Baltrum und besucht auf dem Festland die Seemannsschule in Timmel.

Ein paar Monate fehlen ihm noch bis zur Steuermannsprüfung, dann darf er hinaus auf die hohe See; wird den Daheimgebliebenen von fernen Orten und fremden Häfen erzählen.

Doch jetzt ist erstmal Weihnachten.

Er sieht nach unten, zwei Stiefel im Wasser, das unmerklich aufläuft, wie lange steht er schon so?
ASTRID DEHE, ACHIM ENGSTLER - Auflaufend Wasser

Tjark will nach Hause, seine Familie mit einem Besuch überraschen. Mit den Eltern und den Geschwistern will er am Ofen in der kachelgeschmückten Stube sitzen. Am Morgen des Dreiundzwanzigsten bucht er in Westaccumersiel eine Überfahrt.

Außer dem beiden Bootsmännern ist noch Remmer Schneider an Bord, ein Langeooger, der sich in den Sielhäfen verdingt. Leise gleitet der Kahn über das Watt, nimmt bei dichten Nebel Kurs auf Langeoog und setzt Remmer am Flinthörn ab.

Eine kurze Fahrt durchs Seegat führt zum Osterhook Baltrums. Dort springt Tjark an Land, das Boot verschwindet beinahe lautlos im Nebel.

Ein paar Schritte noch bis zum Ostrand Baltrums. Ein paar mehr trennen ihn von den ersten Dünenketten und den Häusern dahinter.
ASTRID DEHE, ACHIM ENGSTLER - Auflaufend Wasser

Der junge Mann schultert seinen Seesack und marschiert in Richtung seines Heimatortes. Doch etwas ist seltsam, der Strand steigt nicht an, sondern fällt nach wenigen Schritten wieder ab. Rundherum gluckst es und gurgelt.

Die Flut steigt und Tjark erkennt den fatalen Irrtum. Er steht auf einer Sandbank und ist im Watt gefangen …

Drei Hände breit steht das Wasser jetzt über dem Sand, und schon kommt es ihm schwer vor, muskulös und kompakt ... Die See wird ihn nehmen. Das ist ihr Gesetz, der Preis, den sie fordert für das Überschreiten der Grenze.
ASTRID DEHE, ACHIM ENGSTLER - Auflaufend Wasser

Eine Nachricht aus dem Totenreich

In dichter und ausdrucksstarker Sprache erzählt diese Novelle vom dem tragischen Tod des angehenden Seemanns, der an Weihnachten 1866 im ostfriesischen Watt ums Leben kam. Tjark Evers wußte, das er im eiskalten Wasser keine Chance hatte zu überleben.

Er zog Buch und Stift aus seinem Seesack und verfasste auf leeren Buchseiten einen Abschiedsbrief. Während das Wasser ihm bereits um die Beine spielte, legte er das Buch in eine Zigarrenkiste, band ein Tuch darum und hoffte, das seine Nachricht irgendwo angetrieben und die Familie erreichen würde.

Liebe Eltern, Gebrüder und Schwestern, ich stehe hier auf einer Plat und muß ertrinken, ich bekomme euch nicht wieder zu sehen und ihr mich nicht. Gott erbarme sich über mich und tröste euch ...
TJARK EVERS in seinem Abschiedsbrief

Noch heute sind das Buch, der Stift, das Tuch und die Zigarrenkiste im Inselmuseum Baltrums zu sehen. Astrid Dehe und Achim Engstler verarbeiteten das Schicksal Tjark Evers historisch genau und mit einem zeitgenössischem Blick zu einer packenden Erzählung.

Ausgehend von seinen Hinterlassenschaften und knappen Zeilen geben sie Tjark Evers eine Stimme, erzählen vom harten Inselleben und der Seefahrt, von Tjarks Plänen und Hoffnungen. Erzählen, wie es gewesen sein könnte. Und jedes Wort sitzt.

Eine starke Geschichte über das Leben von, am und mit dem Meer.


Der Kurzfilm »Die Zigarrenkiste« dreht sich ebenfalls um den Tod Tjark Evers. Die Hauptrolle spielt Max Riemelt (Freistatt).


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