Die Frauen von Själö

Finnland, 1891. Die Schäreninsel Själö ist ein Ort der Ausgestoßenen und Vergessenen. Früher beherbergte sie Leprakranke, jetzt ist die Insel eine Nervenheilanstalt für Frauen. Wer eingewiesen wird, für den gibt es kaum ein Zurück.

So ergeht es auch Kristina Andersson, die in einer Herbstnacht ihre schlafenden Kinder ertränkt.

Ich habe mein Leben nicht weggeworfen. Ich hab mich nur so schrecklich danach gesehnt, mich einmal ausruhen zu dürfen. Eine Nacht zu schlafen, ohne dass mich jemand aus dem Schlaf reißt.
JOHANNA HOLMSTRöM - Die Frauen von Själö

Vier Jahrzehnte später ist Kristina ist eine alte Frau. Sie ist verstummt und spricht nur noch mit ihrer toten Tochter Helmi. Da weist man die siebzehnjährige Elli auf Själö ein, ein unangepasstes, rebellisches Mädchen.

Verzweifelt sucht Elli der Anstalt zu entkommen und bittet die sanftmütige Schwester Sigrid um Hilfe …

Rundherum ist ja doch nur Meer. Die Schiffe, die hier vorbeikommen, ziehen still und in weiter Ferne vorbei. Kaum eine von ihnen kann schwimmen, nicht mal so viel, dass sie sich vor dem Ertrinken retten könnten.
JOHANNA HOLMSTRöM - Die Frauen von Själö

Verwüstete Seelen

Vielzuoft in der Geschichte wurde die Psychiatrie als Mittel zur Disziplinierung Unliebsamer missbraucht, nicht wenige Heilanstalten entpuppten sich als dunkler Ort des Missbrauchs und der Gewalt. Für Frauen bedeutete dies oft sexuelle Übergriffe und für manche auch die Zwangssterilisation.

Auch Själö war bis 1962 ein solcher Ort. Johanna Holmström stieß im Archiv von Turku auf Patientenakten, die von der unbarmherzigen Behandlung zahlreicher Frauen erzählten.

Wer aufbegehrt wird gefesselt, verschwindet für Wochen in der Isolation. Immer wieder werden die Frauen vermessen und betastet, werden Geschlechtsteile untersucht und Körperausscheidungen protokolliert.

Sie haben sie im Zuchthaus ausgezogen, in Lappviken und nun auch hier. Immer dieses Ausziehen. Immer diese eingehenden Untersuchungen des Körpers in verschiedenen Stadien des Verfalls.
JOHANNA HOLMSTRöM - Die Frauen von Själö

Meisterhaft fängt Holmström die Gemütszustände der Patientinnen ein, taucht ein in Verzweiflung, seltene Momente der Hoffnung, Phasen der Apathie und vollkommene Resignation. Gedankenströme fließen, die Grenzen zwischen Wut, Depression und Wahn verschwimmen.

Aus der Perspektive von Schwester Sigrid erfährt man mehr über den den Inselalltag. Gern werden kräftige Frauen als Schwestern eingestellt, »Mannsweiber«, die in der Lage sind, auch tobende Patientinnen zu bändigen.

Die Gesellschaft ist eine harte Mutter. Sie liebt keinen. Es gibt nur Anforderungen und sehr wenig Belohnungen. Die Gesellschaft liebt auch Sigrid nicht, aber sie akzeptiert sie, weil sie nützlich ist. Wer nicht nützlich ist, muss draußen in der Kälte stehen.
JOHANNA HOLMSTRöM - Die Frauen von Själö

Nach einem Schicksalsschlag wird die Insel für Sigrid zur Heimat, ebenso wie für einige der Patientinnen, die froh sind, hier ein karges Auskommen zu haben. Und so ist Själö für die Glücklicheren trotz allem auch ein Ort, an dem Frauen zumindest existieren können, ohne den Ansprüchen der Gesellschaft genügen zu müssen.

Mit ihrem soghaften Roman erinnert Johanna Holmström an die tragischen Schicksale dieser Frauen. Sie schreibt ausdrucksstark und lässt poetische Bilder vor unserem inneren Auge entstehen – sowohl der kargen Schärenlandschaft und als auch der verwüsteten Seelen.

Johanna HolmströmDie Frauen von Själö Wibke Kuhn Ullstein 2019
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