Solange wir schwimmen

Buchcover

In einem öffentlichen Hallenbad trifft sich regelmäßig eine Gruppe von Menschen. Das Bad ist gewöhnlich, ja karg. Es hat nichts von Luxus oder Lifestyle, noch nicht mal ein Fenster.

Die Menschen sind hier um zu schwimmen, durchs Wasser zu gleiten, den Kopf frei zu machen, sich und ihren Körper zu spüren.

Einige von uns kommen her, weil sie Verletzungen haben und gesund werden müssen. Wir leiden unter Rückenschmerzen, Senkfüßen, geplatzten Träumen, gebrochenen Herzen, Angstzuständen, Melancholie, Antriebsschwäche, den typischen oberirdischen Beschwerden.
JULIE OTSUKA - Solange wir schwimmen

Unter ihnen ist auch Alice, eine Rentnerin, die an einem frühen Stadium von Demenz leidet. Im Schwimmbad fühlt sich Alice unversehrt, im Wasser fließen die Bewegungen wie von selbst.

Doch leider ist der Zustand fragil. Sowohl der von Alice, als auch der des Schwimmbads, in dem sich zur Beunruhigung aller plötzlich ein Riss auftut. Erst ist es eine dunkle, zarte Linie. Dann gesellen sich weitere Risse hinzu.

Ein Riss sprengt den Alltag

Der Riss wird zur Allegorie für Alice geistigen Verfall, sein unerklärliches Auftreten und kurzzeitiges Zurückziehen, sein brachiales Zurückkehren und die beängstigende Vermehrung, der Verlust von Verlässlichkeit und Funktionalität. Das Schwimmbad schließt und Alice zieht ins Pflegeheim Belavista.

Und hier wandelt sich plötzlich die Erzählstimme, ein schneidender Befehlston löst die plaudernde Wir-Form ab. Es spricht die Leitung des Pflegeheims, in einem verstörenden Mix aus Marketingphrasen und nüchterner Beschreibung der trostlosen Realität.

Aber machen Sie sich keine Sorgen, Ihr Mann hat bereits sein Konto mit den Altersrücklagen aufgelöst, Ihre künftigen Sozialversicherungsbeiträge an uns umgeleitet und eine zweite Hypothek auf das Haus aufgenommen, um Ihren Aufenthalt zu finanzieren.
JULIE OTSUKA - Solange wir schwimmen

Was folgt, sind Besuche. Die Tochter schaut vorbei und Ehemann Frank, der anfangs noch verzweifelt auf Heilung hofft.

Denn seine Frau spricht noch, sie schreibt noch, sie kann lesen und weiß, wie spät es ist. Doch das Voranschreiten der Demenz ist unabwendbar, Alice erlischt.

Bald werden Sie vollkommen leer sein, ein Nichts, und zum ersten Mal in Ihrem Leben werden Sie frei sein. Sie werden genau den Bewusstseinszustand erreicht haben, nach dem achtsam Meditierende auf der ganzen Welt streben - Sie werden sich ganz im Hier und Jetzt befinden.
JULIE OTSUKA - Solange wir schwimmen

Julie Otsuka wurde vor gut zehn Jahren durch ihren internationalen Bestseller »Wovon wir träumten« bekannt, der von einer Gruppe junger Japanerinnen erzählt, die auf einem Ozeandampfer gen Amerika fährt um dort zu heiraten.

Sprachlich raffiniert und kongenial übersetzt

Schon damals bediente sie sich der ungewöhnlichen Wir-Perspektive, die von einem kollektiven Erleben zu erzählen scheint. Auch in »Solange wir schwimmen« beginnt die Schwimmbadgruppe zunächst mit Alltagsbeobachtungen und schlägt dabei einen frischen, ironischen Ton an.

Doch im Verlauf des Romans schlägt die Stimmung um, mit beißendem Zynismus demaskiert Otsuka die Unmenschlichkeit des Pflegebetriebs. Bis der Grundton im schließlich abkühlt und eine Tochter erzählt, die ihrer Mutter niemals nah war.

Eine letzte Erinnerung. Zu der Zeit, als du deinen dritten Roman abschließt, hat sie seit über einem Jahr nicht gesprochen. Inzwischen, sagt dein Vater, wünscht er sich nur noch, dass sie etwas sagt, einfach irgendetwas.
JULIE OTSUKA - Solange wir schwimmen

Es ist ein ebenso knapper wie brillanter Roman, der sich trotz – oder gerade wegen? – seiner sprachlichen Raffinesse leicht lesen lässt und mit feinem Humor unterhält. Kongenial übersetzt von Katja Scholtz, die Otsukas kraftvolle Sätze und verschiedene Stimmen zu einem unverwechselbaren Sound verschmilzt.

Julie OtsukaSolange wir schwimmen Katja Scholtz mare 2023
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