April 1986. Der dreizehnjährige Bauernsohn Artjom streift über die Felder und macht eine verstörende Entdeckung: Das Vieh blutet aus den Ohren und kurz darauf fallen die Vögel tot vom Himmel. Im benachbarten Tschernobyl ist der Reaktor explodiert.
In Pripyat und Umgebung evakuiert man die Bevölkerung, Artjom wird mit seiner Familie nach Minsk gebracht. Dort hoffen sie auf einen Unterschlupf bei Verwandten, doch man jagt sie fort wie Aussätzige. Der Familie bleibt nur das erbärmliche Lager.
In Moskau kommandiert man den Chirurgen Grigori ins Unfallgebiet ab. Vor Ort erkennt er das Ausmaß der Katastrophe und dringt auf den Schutz der Bevölkerung. Doch überall stößt er auf Gegenwehr, beim Krisenstab ebenso wie bei den Ärzten in Minsk.
Unterdessen lebt man in Moskau einen ganz normalen Alltag. Grigoris Ex-Frau Maria steht Tag für Tag an der Drehbank, obwohl sie doch eigentlich Journalistin ist. Sie hasst diese stumpfsinnige Arbeit und verflucht diejenigen, die sie kalt gestellt haben.
Seit ihrer Scheidung lebt Maria bei ihrer Schwester Alina und ihrem Neffen Schenja, für eine eigene Wohnung hat es nie gereicht. Jetzt hofft sie auf Glasnost und Perestroika und schließt sich in der Fabrik einem Aufstand an …
Facetten eines untergehenden Regimes
Der Theaterregisseur Darragh McKeon hat einen beeindruckenden Debütroman geschrieben, dessen Titel dem Kommunistischen Manifest entliehen ist.
Vor dem dem Hintergrund der Reaktorkatastrophe zeichnet er ein Gesellschaftsporträt der untergehenden Sowjetunion. Seine Figuren stammen aus den unterschiedlichsten Milieus, ihre sich kreuzenden Wege werfen ein Licht auf das marode Regime.
Grigori und Maria gehören der gut ausgebildeten Intelligenzija an, beide hadern auf ihre Weise mit dem System. Maria hat nach der Scheidung und ihrem Berufsverbot den Lebensmut verloren. Die stumpfsinnige Fabrikarbeit ödet sie an, sie sehnt sich nach Kultur und geistiger Nahrung.
Dass Grigori noch in seinem Beruf arbeiten darf, verdankt er Maria, die sich zwangsweise von ihm trennte, um ihn vor Repressalien zu schützen. Die Scheidung hat ihn gebrochen und sein Lebenswille ist versiegt. Ganz anders sein Freund Wassili, der dem Marschbefehl folgt, weil er Familie hat.
In Nebenhandlungen erzählt der Roman auch von den Katastrophenhelfern, die wie Artjoms Vater in den sicheren Tod geschickt wurden, und den Entwurzelten, die nach der Evakuierung einen neuen Platz zum Leben suchen.
»Alles Stehende verdampft« lässt nachempfinden, wie die Reaktorkatastrophe in das Leben der Menschen einbrach und wie es sich anfühlt, wenn man der Regierung und seinen Mitmenschen nicht trauen kann. Ein spannender und glänzend geschriebener Roman, der das historische Geschehen mit persönlichen Schicksalen verknüpft.