Sie kommen nachts und nehmen die Schule im Handstreich ein. Maryam wird gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen von Boko-Haram-Kämpfern entführt und in den Dschungel Nigerias verschleppt. Ihre Freundin Rebeka wagt den gefährlichen Sprung vom LKW, aber Maryam zögert ein paar Sekunden zu lang.
Im Lager lernt sie schnell, dass jedes Aufbegehren tödlich endet. Die Kleider der Mädchen werden auf einen Haufen geworfen und verbrannt, dann beginnen die Vergewaltigungen und der Sklavendienst.
Zunächst wird Maryam als Küchenhilfe eingeteilt. Sie kocht Getreidebrei und befreit das vergammelte Fleisch von Maden, die Ehefrauen der Kommandanten tragen den Männern das Essen auf.
Buki, ein anderes versklavtes Mädchen, freundet sich mit Maryam an. Gemeinsam lässt sich die Gefangenschaft leichter überleben. Doch dann wird Maryam mit Mahmoud verheiratet, einem Mann, der seine Frau zumindest nicht quält. Die Ehe gibt Maryam einen fragilen Schutz, doch Buki bleibt allein zurück.
Nach einem Kampfeinsatz bleibt Mahmoud verschollen und Maryam bekommt eine Tochter, die sie Babby nennt. Als die nigerianische Armee das Lager angreift, gelingt es Buki und Maryam gemeinsam mit dem Baby zu fliehen.
Gehetzt flüchten die drei durch den Dschungel, auf der Suche nach dem rettenden Weg in Freiheit. Doch die Landbevölkerung traut sich kaum ihnen zu helfen …
Der steinige Weg in die Freiheit
Edna O’Brien verdichtet in ihrem Buch das Schicksal der 276 Mädchen, die im April 2014 aus einer weiterführenden Schule in Chibok im Nordosten Nigerias von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram verschleppt wurden. Viele Prominente setzten sich unter dem Hashtag #bringbackourgirls für die Entführten ein. Im Laufe der Jahre kamen etliche der jungen Frauen frei, doch noch heute gelten mehr als Hundert von ihnen als vermisst, beziehungsweise gefangen.
Zur Vorbereitung aufs Schreiben ist Edna O’Brien selbst auf Recherchereise nach Nigeria gefahren – mit achtundachtzig Jahren! Dort sprach sie mit Mädchen, die entkommen waren, mit Ärztinnen, Psychiatern, Mitarbeitern von NGOs und vielen anderen, die geholfen hatten. Allein dem Kraftakt dieser Reise gebührt Hochachtung. Doch der Roman, der daraus entstanden ist, kann auch unabhängig von seiner Entstehungsgeschichte literarisch bestehen.
Die Autorin erzählt sowohl von der brutalen Versklavung der Schulmädchen, als auch von ihrem langen Weg zurück in die Freiheit. Auf das Trauma der Gefangenschaft folgte für viele die Ächtung der Gesellschaft: Die Menschen fürchten die Rache der Terrormiliz, manche Mädchen wurden als »Terror-Bräute« beschimpft und mitsamt ihren Kindern verstoßen.
Das alles schildert Edna O’Brien in einer klaren, bildreichen Sprache. Sie erzählt die Geschehnisse nicht einfach nach, sondern lässt uns eintauchen in die Gefühlswelt von Maryam, gibt Landschaftsbeschreibungen Raum und wirft einen Blick auf das Großstadtleben in Abuja.
»Das Mädchen« ist genauso schnörkellos wie sein Titel und sein Cover. Ein kraftvolles und aufrüttelndes Buch, das leidenschaftlich Stellung bezieht: Für eine Welt ohne Gewalt gegen Frauen und Mädchen.
Die Ereignisse im Lager erinnern an Margaret Atwoods »Report der Magd«, nicht ohne Grund schrieb die Sunday Times: »Dies ist das wahre Gilead.« Maryams schwierige Rückkehr ins Leben weckt darüber hinaus auch Assoziationen zu Emma Donoghues Roman »Raum«, in dem eine jahrelang entführte junge Frau in die US-amerikanische Gesellschaft zurückkehren versucht, gemeinsam mit ihrem Sohn, der der Vergewaltigung durch ihren Peiniger entstammt.