Juist, 1925: eine Gruppe idealistischer Lehrer gründet auf der kleinen Nordseeinsel ein außergewöhnliches Internat. Die »Schule am Meer« hat sich der Reformpädagogik verschrieben, unterrichtet Mädchen und Jungen gemeinsam, fördert das Handwerk, das Theaterspielen und die Bewegung an der frischen Luft.
Zu den Gründern gehören die jüdische Lehrerin Anni Reiner und ihr Mann Paul, sowie der theaterbegeisterte Pädagoge Martin Luserke, der zum Schulleiter avanciert. Im westlichen gelegenen Inselteil Loog wird die Schule erbaut.
Bald ziehen die ersten Schüler ein, darunter etliche Sprößlinge vermögender Eltern aus der ganzen Welt. Unter ihnen ist auch Maximilian Mücke, genannt Moskito, dessen Familie in Bolivien eine Zinnmine betreibt. Er freundet sich mit Marje an, der Nichte der resoluten Schulköchin Kea, die als Inselkind ebenfalls die Schule besucht.
Als noch der Musikpädagoge Eduard Zuckmayer zum Kollegium stößt, scheint die Welt im Loog für eine kurze Zeit perfekt. Lehrer und Schüler verbringen im rauen Nordseeklima eine erlebnisreiche Zeit auf Juist. Doch von Ferne ziehen dunkle Wolken auf.
Die Nazis fassen Fuß auf der Insel und bringen die Schule in Misskredit. Allen voran Gustav Wenniger, der ein Auge auf die schöne Therese und ihr Erbe, das gut gehende Hotel Gerken, geworfen hat. Wenniger hetzt gegen Juden und Kommunisten und steigt in der Inselhierarchie auf.
Als Paul im Eiswinter 1929 schwer erkrankt und ausgeflogen werden muss, gibt es nur einen der helfen kann: der neue Gemeinderat Wenniger, der Anni und Paul Reiner abgrundtief hasst …
Im Schatten des großen Luserke
Sandra Lüpkes ist auf Juist aufgewachsen, viele ihrer bisherigen Unterhaltungsromane und Krimis spielen auf den Ostfriesischen Inseln. Mit »Die Schule am Meer« betritt sie jetzt literarisches Neuland, der historische Roman erzählt vom Leben in dem reformpädagogischen Internat, das es bis 1934 tatsächlich auf Juist gegeben hat.
In etlichen parallelen Handlungssträngen bringt uns Sandra Lüpkes die Ideen der Schulgründer nah und lässt uns teilhaben am Schulalltag, der in mancher Hinsicht auch heute noch modern erscheint: mit Unterricht in Kleingruppen, Schulgärten, Seeaquarien und Lernprojekten in der umgebenden Natur.
Bei ihren Recherchen stützte sich Sandra Lüpkes unter anderem auf die tagebuchartigen »Logbücher« Martin Luserkes, der darin das Leben in der Schule am Meer beschrieb, sowie auf Berichte ehemaliger Schüler. Das meiste in diesem Buch beruht daher auf wahren Ereignissen, die in ihrer Vielzahl jedoch die Handlung zerfasern.
Die Figurenzeichnung und der Spannungsbogen leiden ein wenig darunter, einzig Anni Reiner erscheint als ein vielschichtiger Mensch mit Sehnsüchten, Zweifeln, Ecken und Kanten. Ein Grund dafür findet sich im interessanten Nachwort der Autorin.
Im Zuge ihrer Nachforschungen stieß Sandra Lüpkes auf über hundert Briefe, die Anni Reimer zwischen 1931 und 1933 ihrer Tochter Renate geschrieben hatte, zu einer Zeit, in der die Logbücher Luserkes schmallippig wurden. Aus diesen Briefen ergab sich eine neue Deutung der Ereignisse, die der Schulschließung im Jahr 1934 vorausgingen, und Luserke gibt keine allzu gute Figur dabei ab.
Schön, dass Anni Reiner in diesem Buch deutlich an Profil gewinnt. Mit ein bisschen mehr Schärfentiefe hätte der Roman auch die dunkleren Ecken des pädogischen Konzepts ausleuchten können, zum Beispiel den völkischen Charakter, der Luserkes mystischen Ideen zu Grunde lag. Aber dann wäre es ein ganz anderes Buch geworden und Anni Reiner wäre erneut im Schatten Luserkes verschwunden. Und das wäre dann doch sehr schade.