Halbe Leben

Klara ist 38 Jahre alt und erfolgreiche Architektin. Mit ihrem Ehemann Jakob und Tochter Ada lebt sie im österreichischen Kremstal. Sie ist Alleinverdienerin und liebt ihre Arbeit, Jakob lebt in den Tag hinein und pflegt sein Image als Künstler.

Alles ändert sich, als Klaras Mutter Irene nach einem Schlaganfall nicht mehr klarkommt. Irene bezieht eine Einliegerwohnung im Haus, die slowakischen Pflegekräfte Radek und Paulína wechseln sich dort alle zwei Wochen ab.

Der ernste Radek bleibt ein Fremdkörper im Haus, aber mit der zupackenden Paulína stimmt die Chemie. Sie hat einen guten Draht zu Irene und ist bald auch in Klaras und Jakobs Haushalt unentbehrlich, sie kauft ein, kocht oder geht eine schnelle Runde mit dem Hund. Ein Glücksfall.

... sie hat außer diesem Leben noch ein anderes, das sie alle zwei Wochen an- und wieder auszieht, auch ihr fehlt ein fester Boden ... und vielleicht ist das der Grund, warum sie sich ohne Worte verstehen, und warum sie Irene ab und zu ein Gläschen Martini trinken lässt ...
SUSANNE GREGOR - Halbe Leben

Doch für die alleinerziehende Paulína wird der Job zu einer Zerreißprobe. Ihre eigenen Kinder werden daheim von der Schwiegermutter betreut, Monat um Monat wächst die Entfremdung zwischen Mutter und Söhnen.

Je unentbehrlicher Paulína in Österreich wird, desto mehr entgleitet ihr in Prievidza das eigene Leben …

Es ist ein stiller Tod. An einem sonnigen Mainachnachmittag um vierzehn Uhr siebenunddreißig stürzt Klara an einer unscheinbaren Böschung fünfzig Meter in die Tiefe.
SUSANNE GREGOR - Halbe Leben

Bezahlung wird zum Geschenk

Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Klaras Tod. Ein Cliffhanger, der die Spannung von Beginn an hochhält. In einer langen Rückblende leuchtet Susanne Gregor dann die asymmetrische Beziehung zwischen den beiden Frauen aus und beleuchtet das Spannungsfeld der häuslichen Pflege.

Zunächst lässt sich alles gut an. Klara wird getragen von einer Welle der Dankbarkeit, weil die Pflegerin ihr das eigene Leben zurückgibt. Sie fühlt sich wohl in Gegenwart Paulínas und plaudert mit ihr fast freundschaftlich.

Sie werden jemanden finden, der sich mit sowas auskennt, und sie wird wieder in ihre alte Rolle als Tochter zurückkehren können, die einmal am Tag ins Zimmer der Mutter lugt, sie am Arm tätschelt und ihr Mut macht.
SUSANNE GREGOR - Halbe Leben

Doch es ist keine Freundschaft, sondern ein Arbeitsverhältnis mit einem für beide Seiten ungewohnten Mangel an Privatheit. Im Pflegezimmer wohnt Paulína in Irenes Einliegerwohnung, das Handy bleibt die brüchige Nabelschnur zu ihrer eigenen Familie. Klara betont ihre Ähnlichkeit mit Paulína, drängt der schlankeren Frau ihre Altkleider auf. Paulína fühlt sich beschämt, aber sie braucht das Geld und will ihre Stelle behalten.

Auf subtile Weise nutzen Jakob und Klara Paulína aus, sie deuten Gefallen zum Gewohnheitsrecht um, entlohnen Mehrarbeit mit einem großzügigen Trinkgeld. Bezahlung wird so zum Geschenk, klare Absprachen fehlen. All das liest sich ausgesprochen spannend, in schnörkelloser Prosa und mit psychologischer Tiefenschärfe lotet Susanne Gregor die Situation der beiden Frauen und die dunklen Ecken dieses Pflegemodells aus.

Ein famoser Gesellschaftsroman, der in Thema und Stil ebenso an Leïla Slimanis Bestseller »Dann schlaf auch Du« erinnert, wie an die gesellschaftskritischen Romane von Delphine de Vigan (Loyalitäten, Ich hatte vergessen, das ich verwundbar bin).

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