Juri hat seine Heimat lange nicht mehr gesehen. Er stammt aus Murmansk nördlich des Polarkreises, Hafen der russischen Nordflotte. Jetzt lebt er als Ornithologe in Nordamerika.
Die Nachricht, sein Vater Rubin liege im Sterben, zwingt Juri widerwillig an die Barentssee zurück. Eigentlich hatte er mit dem Vater für immer gebrochen.
Auf dem Sterbebett äußert Rubin einen Wunsch: Juri soll herausfinden was mit seiner Großmutter Klara geschah. Die brillante Wissenschaftlerin wurde vom Geheimdienst abgeholt als Rubin vier Jahre alt war. Seit diesem Tag sprach in der Familie niemand mehr über Klara.
Als Juri erste Nachforschungen anstellt, stößt er auf belastende Protokolle. Auch sein Großvater erscheint plötzlich in einem anderen Licht …
Das Unrecht überdauert Generationen
Isabelle Autissier ist passionierte Seglerin und Meereswissenschaftlerin, ganz selbstverständlich fließen das Meer und die Schifffahrt in ihre Romane ein. Ihr neuer Roman ist ein packendes Familiendrama, in dem der Terror der Stalinära bis in unsere Gegenwart nachwirkt.
Vor dem Hintergrund der stalinistischen Säuberungen erzählt Autissier von bitterer Armut in den Nachkriegsjahren, den unmenschlichen Bedingungen in den Arbeitslagern, von harter Arbeit auf den Fischtrawlern und einer toxischen Männlichkeit, die sich nur durch Prügel zu behaupten und auszudrücken weiß.
Dazwischen fängt Autissier gekonnt die Schönheit der nordischen Landschaft ein; sei es die sommerliche Tundra, in der Juri seinen Frieden und die erste Liebe findet, oder die frostige Lebensfeindlichkeit der sibirischen Steppe, in der Klara dem Nomadenvolk der Nenzen begegnet.
Und immer wieder ist da das Meer. Als Sohn einer Geächteten gelingt es Rubin, durch unbeugsame Härte zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Er wird zu einem der erfolgreichsten Kapitäne der Nordmeerflotte und tilgt den Makel der Familie. Auch Juri versucht sich an der Seefahrt, scheitert jedoch grandios.
Durch geschickten Wechsel der Perspektiven baut Isabelle Autissier eine unterschwellige Spannung auf, nicht so rasant wie in ihrem Pageturner »Herz auf Eis«, aber zugunsten vielschichtiger und scharf ausgearbeiteter Figuren. Nach und nach erfährt man, wie Rubin vom mutterlosen Kind zu dem abgestumpften und hartherzigen Mann wurde. Und hofft mit ihm, Klara möge den Gulag überlebt haben.
Ein packender und berührender Familienroman, in dem die frostige Landschaft die Verlorenheit der Figuren spiegelt. Juri, Rubin und Klara wappnen sich nicht nur gegen die Kälte des Polarmeeres, sondern auch gegen die Abgestumpfheit ihrer vor Angst und Scham erstarrten Familie.