Théo ist zwölf Jahre alt und ein stiller Schüler. Seine Eltern sind geschieden, das Sorgerecht geteilt. Alle sieben Tage wechselt er schwer bepackt sein Zuhause: eine Woche bei der Mutter, eine beim Vater.
Die Mutter lässt an ihrem Ex-Mann kein gutes Haar. Wenn Théo von dort zurückkehrt, befragt sie ihren Sohn über das feindliche Lager und lässt ihre schlechte Laune an ihm aus.
Aber Théo hält dicht und übt sich in Ausflüchten. Denn die Wahrheit gilt es um jeden Preis zu verbergen: in der Wohnung des arbeitslosen Vaters herrscht blankes Chaos.
In der Schule hat Théo nur einen einzigen Freund, den gleichaltrigen Mathis. Als Théo heimlich zu trinken beginnt, zieht er Mathis an seine Seite, hinab in die tröstende Welt des Alkohols. Dann fliegt Mathis zu Hause auf.
Jetzt würde Mathis Théo gern helfen. Doch wie, ohne den Freund zu verraten?
Botschafter zwischen verfeindeten Armeen
Mit wenigen, messerscharf gesetzten Worten nimmt sich Delphine de Vigan den Abgründen unseres modernen Familienlebens an und katapultiert uns in die trostlose Welt des zwölfjährigen Théo. Das Scheidungskind ist der Botschafter zwischen zwei verfeindeten Armeen, der Überbringer der schlechten Nachricht, ein Wesen, das an das Übel vergangener Tage erinnert.
Théo hat deshalb gelernt unsichtbar zu werden. Sein Blick ist gesenkt, seine Bewegungen sind lautlos. Noch besser fühlt er sich, wenn auch die Gedanken in Watte versinken und der Alarmton in seinem Kopf endlich verstummt. Alkohol verspricht Théo Erlösung.
In »Loyalitäten« verstellen Selbstbezogenheit, Gleichgültigkeit oder ein Mangel an Vorstellungskraft den Protagonisten den Blick, die Nöte der anderen werden unsichtbar. Mathis und Théos Mütter sind in ihren eigenen Problemen gefangen, die Väter nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Einzig Hélène, die engagierte Lehrerin, bemerkt Théos Abdriften, aber auch sie unterliegt einem fatalen Trugschluss. Und Mathis? Der Schulfreund kapituliert vor einer Entscheidung, die zu schwer auf ihm lastet, einem Dilemma aus Mitmachen und Widersetzen, Loyalität und Verrat.
Nüchtern im Ton, und dabei herzzerreißend, erzählt Delphine de Vigan von der Kälte familiärer Beziehungen und schmerzhaften emotionalen Bindungen. Der kurze Roman erschüttert, lässt einen zuweilen den Atem anhalten – und tröstet mit einem winzigen Hoffnungsschimmer. In Thema und Ton erinnert er an Leïla Slimanis »Dann schlaf auch du« und zeigt dabei einen ganz eigenen Stil.
Ein Buch wie eine überscharfe Fotografie, hart, klar und präzise. Großartig.