Middlewood, Ohio, 1977. Die sechzehnjährige Lydia Lee ist über Nacht verschwunden. Ihre Eltern James und Marilyn forschen bei ihren Freundinnen nach, doch die behaupten, nichts zu wissen. Einen Tag später wird Lydia wird tot aus einem See geborgen.
Die Polizei tippt auf Selbstmord und legt den Fall bald zu den Akten. Aber Lydias älterer Bruder Nath glaubt an Mord und hat den Nachbarjungen Jack im Verdacht.
Marilyn Lee zieht sich vollkommen zurück, ganze Tage verbringt sie im Zimmer ihrer toten Tochter. Dort blättert sie durch die Sachbücher im Regal, liebevoll ausgesuchte Weihnachtsgeschenke für ein ernsthaftes Mädchen.
Um nicht durchzudrehen, vergräbt sich Vater James in die Arbeit, Hannah, die jüngste Tochter, bleibt mutterseelenallein. Noch mehr als sonst hofft das stille Mädchen darauf, dass ihre Eltern sie endlich wahrnehmen.
Stundenlang grübelt Hannah über Lydias Geheimnisse. Und kann sich nicht überwinden, davon zu erzählen …
Im Zerrspiegel der anderen
Was wissen wir über die Menschen, die wir lieben? Wovon träumen sie wirklich? Was geben wir vor zu sein? Celeste Ngs packender Bestseller berührt universelle Fragen.
Im Roman mündet die Unfähigkeit, andere Familienmitglieder als Individuen zu sehen, in eine Tragödie. In Rückblenden erzählt Ng von den Hoffnungen, die James und Marilyn einst glücklich vereinten, und von geplatzten Träumen, die sie bald auf ihre Kinder projizierten.
James, ausgegrenzter Sohn chinesischer Einwanderer, wünscht seinen Kinder nichts sehnlicher, als das sie beliebt sein mögen. Lydia schenkt er Bücher, aus denen sie lernen soll, wie man Freunde findet. Und Marilyn bereut es bitter, dass sie ihr Medizinstudium gegen ein Hausfrauendasein eingetauscht hat.
In den ersten Jahren ihrer Ehe bricht sie deshalb aus und verschwindet spurlos; ein Schock, der vor allem Lydia nachhaltig prägen wird. Nachdem Marilyn zurückkehrt ist, wird nie mehr in der Familie darüber gesprochen – und bald darauf kommt Hannah zur Welt.
»Was ich euch nicht erzählte« handelt von trügerischen Vermutungen, die wir über andere anstellen und den inneren Zerrspiegeln, in den wir unsere Liebsten sehen. Ein dichter und äußerst spannender Roman, mit wunderbar vielschichtig ausgearbeiteten Figuren.
Der Ort Middlewood ist fiktiv, er steht für die beengte Stimmung, die Celeste Ng in ihrer Kindheit selbst in Vororten von Cleveland und Pittsburgh erlebt hat. In ihrem Folgeroman »Kleine Feuer überall« greift Celeste Ng ähnliche familiäre Konflikte wieder auf und schreibt erneut über Bitterkeit, die aus geplatzten Träumen erwächst.
Nathan Hill schreibt in seinem furiosen Gesellschaftsroman »Geister« ebenfalls über eine Mutter, die in den späten Sechzigerjahre dem Mief einer amerikanischen Kleinstadt entflieht – und ihren Ehemann und Sohn ohne Nachricht zurücklässt.