Und jeden Morgen das Meer

BuchcoverSonja Bräunig war dreißig Jahre lang die Chefin eines Hotels am Bodensee. Der »Lindenhof« war eine Instanz, die Küche mit einem Michelin-Stern gekrönt.

Dort gab sich ihr Mann Bruno ganz seinem Können hin, bekochte illustre Gäste wie Kanzler Kohl und Chirac. Der Feinschmeckertempel war immer für einen Stopover gut, ein touristischer Magnet, der seine bodenständige Umgebung glänzen liess.

Doch dann verlor Bruno erst den Stern und schließlich den Halt. Sein Bruder Arno ist bereit, den Lindenhof mitsamt seinen Schulden zu übernehmen – vorausgesetzt, Sonja packt die Koffer und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.

Doch wo soll sie neu anfangen? Mit zweiundsechzig Jahren, und das in der Gastronomie? In einem Alter, in dem andere sich zur Ruhe setzen? Sonja kassiert Absagen über Absagen und reist schließlich nach Wales, zur ihrem alten Stammgast Mister Pettibone.

Wales
Sonja mag die schmucklosen Häuser am Meer

In einem Land, wo das Wetter so öde ist wie das Essen, wartet eine abgetakelte Pension auf sie …

Auf dem Hochland mag es wochenlang schütten, am Meer ziehen die Wolken vorbei und bescheren einem in wenigen Stunden vier verschiedene Jahreszeiten.
KARL-HEINZ OTT - Und jeden Morgen das Meer

Scheitern auf hohem Niveau

Der Titel verspricht ein Buch über Wales und das Leben in einem Provinzkaff an der Irischen See. Und doch ist das Buch eher eine Reise an den Bodensee, in eine schillernde Vergangenheit, die das schmähliche Ende von Anfang an mitdachte.

Bodensee
Der Blick auf die Alpen erinnert Sonja an ihre Kindheit

In Abydyr, dem fiktiven walisischen Schauplatz, steht Sonja gern am tosenden Meer. Die wogende See überollt die Promenade, sie ist kraftvoll, rau und herrlich wüst. Hier ist alles ganz anders als daheim, am lieblichen Bodensee, mit seinen herausgeputzten Häusern, prächtigen Gärten und der kultivierten Lebensart. Alles was dort so etepetete war, ist in Wales schmucklos und funktional. Eine neue Einfachheit, mit der sich Sonja arrangiert.

Karl-Heinz Ott erzählt voller Witz und Ironie von Sonjas Aufstieg und Abstieg, von ihrem Leben an der Seite schüchternen Bruno, dem es nicht gelang, seinem Michelin-Stern zu Geld zu machen.

Menschenscheu wie er war, mied Bruno seine Gäste, sprach selten ein Wort zuviel und ließ sich von öffentlichen Auftritten in Panik versetzen. Ein Mann, der das krasse Gegenstück zu dampfplaudernden Fernsehköchen war, jenen Entertainern mit Kochmützen, deren Unternehmen letztendlich ihre Sterneküche subventionierten.

Am Bodensee sind die Gassen herausgeputzt.

Und so ist vom Ende gedacht, völllig klar wie es ausgehen musste: der Lindenhof eine heruntergekommene Bruchbude, die einstige Chefin vom Miterben Arno wie ein lahmer Hund vom Hof geprügelt.

Bruno hätte diese Michelin-Typen umbringen können, die sich bei ihm inkognito mit Kaviar und Hummer vollstopften und zum Dank seine Existenz vernichteten.
KARL-HEINZ OTT - Und jeden Morgen das Meer

»Und jeden Morgen das Meer« ist ein bissiger, ironischer und ausgesprochen unterhaltsamer Roman, der der Feinschmeckerwelt einen unbarmherzigen Spiegel vorhält.

Im Tonfall und der Erzählweise erinnert die Tragikomödie an das ebenso gelungene Gesellschaftsportrait »Ich war Diener im Hause Hobbs«, das in gehobenen Zürcher Kreisen spielt. Der Bodensee und die Schweiz gehören eben ganz eng zusammen.

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